klang collection – eine „selbstanalytische“ Annäherung


Der hier veröffentlichte lange Text ist bewusst nicht im CD-Booklet selbst zu finden; ihn zu lesen sei nur denjenigen empfohlen, die sich in besonders tiefer Weise – vielleicht auch mit fachlich-analytischem Interesse – in mein Album klang collection vertiefen möchten. Wer die – durchaus sinn- und reizvolle – Modalität eines „intuitiveren“ Hörens wählt, der*die lese bitte nur den im CD-Booklet abgedruckten Text; nämlich diesen hier:

klang collection ist meine musikalische Aufarbeitung der Corona-Zeit. Reflektiert werden vielfältige Klänge, Dinge, Orte, die mir 2020 und 2021 wichtig waren, die auf der Agenda gestanden hätten, aber aufgrund der Situation „unerhört“ blieben, ergänzt durch starke Reminiszenzen an die „Zeit davor“. Dennoch bleiben viele der Stücke abstrakt – in dem Sinne, dass sich die Referenzen nicht auf der Oberfläche, sondern eher aus der Anatomie der Textur erschließen. Überdies entwickeln die Kompositionen durchaus eine eigene, von den jeweiligen Bezugspunkten losgelöste innere Logik. Die drei „Abteilungen“ – places, dedications, images – können jeweils als eigenständige Werke betrachtet werden, deren einzelne Sätze (Tracks) ebenfalls als in sich geschlossene Stücke gehört werden können. Und natürlich gibt es auch den dramaturgischen Kontext der rund fünfzigminütigen Gesamtkomposition. Verarbeitet wurden überwiegend Klavierklänge, spontan improvisierte wie minutiös konstruierte, aber auch Synthetisches, Field Recordings – Sounds einer beklemmenden, aber nicht verlorenen Zeit. (English version)

Bevor das Album klang collection zu seinem endgültigen Titel gefunden hat, standen zeitweise zwei weitere im Raum: zunächst sons perdus (poetisch, aber in der ausgedrückten Unwiderrufbarkeit auch pessimistisch), dann sonora (nicht weit entfernt von Corona, aber vielleicht auch etwas schöngeistig). Nun also klang collection. Ich mag diesen Titel, zusammengesetzt aus dem lautmalerischen, aber irgendwie auch etwas hart klingenden Wort klang und dem „internationalen“ Wort collection. Eine Sprach-Mixtur sind auch die einzelnen Satz-Titel: Zum Einsatz kommen Englisch, Deutsch, Französisch, Ungarisch und Niederländisch – die Titel richten sich einfach nach der jeweiligen Quelle meiner „Inspiration“ (ich mag den Begriff „Inspiration“ nicht sonderlich – aber doch, es gibt so etwas, wie verschlungen die Wege zur endgültigen Komposition dann auch sein mögen).

Mein allgemeiner Weg zur elektronischen Komposition führte gewiss über eine technisch-experimentelle Neugier, vor allem aber über die musikalische Fantasie: Von jeher spielt in meinen elektroakustischen Arbeiten das Klavier eine wichtige Rolle, in dem Sinne, dass ich vermöge der Elektronik ein Klanggeschehen realisiere, das mit herkömmlichen oder auch „analog-handwerklichen“ Neue-Musik-Spieltechniken nicht machbar wäre, aber natürlich auch das Klavier als Ausgangspunkt weiterdenke und seine (an sich schon reiche) Klangsprache experimentell fortentwickle. In klang collection kommen einige „Basis-Instrumente“ hinzu, außerdem ein verstärkter Einsatz von Field Recordings, die aber selten in purer Form hörbar bleiben (wie in oiseaux un oder eisblume – walking, die in dieser Hinsicht Ausnahmen bilden), sondern im wahrsten Sinne des Wortes in ihre Einzelteile zerlegt werden, die dann neues, autonomes Material ergeben.

Meine Vorgehensweise würde ich als „minutiös“ beschreiben; ergo ist sie extrem zeitaufwändig, da jedes einzelne Ereignis und jeder einzelne Klang sorgfältigst „ausgemischt“ werden, vor allem durch Schichtung unterschiedlichen Materials, wobei stets die Strukturierung auf der Zeitachse – im Sinne einer „richtigen“ Anordnung – eine zentrale Herausforderung darstellt. Dabei ist die Delete-Taste meine ständige Weggefährtin; nur ein kleiner Teil der ausgetesteten Schichtungen schafft es schlussendlich in die finale Version. (Alles Material, das verwendet wird, stammt direkt von mir: Weder Zitate noch „Samples“ anderer Musikstücke oder Kunstwerke sind darin zu finden.)

Da, neben der dramaturgischen Logik der rund fünfzigminütigen Gesamtkomposition, sowohl die 24 einzelnen Sätze als auch die drei „Abteilungen“ (places, dedications, images) auch an sich als selbstständige Kunstwerke gehört werden können, war es eben die Aufgabe, charaktervolle Stücke mit einer gewissen Unterscheidbarkeit zu komponieren, die sich dennoch auch in den übergeordneten Gruppierungen sinnvoll zusammenfügen. So gibt es natürlich auch einen Track-übergreifenden Material-Pool bzw. Elemente, die „wiederkehren“. Einige der Piècen sind – in Herangehensweise und Klanglichkeit – aber sogar SEHR unterschiedlich geworden: von mathematisch-experimentell bis fast melodisch, gar Popmusik-artig. Durch bewusst gestaltete Übergänge zwischen den Stücken und zahlreiche Querverweise finden alle Tracks „zueinander“; es ist eine „collection“, in der vieles mit vielem zusammenhängt, auch wenn man es vielleicht nicht sogleich vermutet oder heraushört (was – gemeint ist Letzteres – niemals das Ziel solch inhaltlicher Verquickungen ist; schon bei Schönberg war ja nicht die Idee, hörend etwa die Zwölftonreihe „nachvollziehen“ zu können, auch wenn man diesem Irrglauben immer wieder begegnet).


Zu den einzelnen Stücken:


places

01 perl
Gemeint ist hier der kleine saarländische Ort Perl an der deutsch-luxemburgischen Grenze, gelegen an der Mosel – sehr vermisst habe ich in den Corona-Sommern 2020 und 2021 die (seit vielen Jahren fast als Tradition durchgeführten) Wanderungen im Saarland! Neben der Idee von Tönen, die wie in einer Perl-enkette (sic!) zusammengefügt sind (man spricht bei Pianist*innen schließlich auch von „jeu perlé“), transportiert das Stück – finde ich – auch einen gewissen Aufbruchs-Geist, der – so banal das klingen mag – auch aus meiner Begeisterung für sportliche Herausforderungen resultiert (denen ich mich glücklicherweise auch während der Corona-Monate intensiv widmen konnte).

02 tokyo, shinjuku – turning point
Die Atmosphäre des Stücks spricht eigentlich für sich, dennoch hier etwas „Background“: Die Idee zu der Komposition kam mir im Zusammenhang mit einem Handy-Foto, das ich vor einigen Jahren in Shinjuku – dem urbanen Zentrum der japanischen Hauptstadt – geschossen habe (also an einem in Corona-Zeiten ganz besonders fern erscheinenden, temporär sicher unerreichbaren Ort). Ich entdeckte das besagte File während des Corona-Lockdowns auf einer alten Festplatte. Es zeigt, durchsetzt von vielen-vielen Lichtpunkten, ein elegantes Auto, das – so scheint es – gerade im Begriff ist, zu wenden. Auch für mich war der betreffende Aufenthalt in Shinjuku ein wichtiger persönlicher „turning point“. Die Komposition – mehr möchte ich hier nicht verbalisieren – hält diesen Moment „im Fluss“ fest. Wer möchte, kann sich das Bild hier bei Facebook ansehen.

03 the outside (inside)
Ein enigmatisch-emotionales Stück ist das – mir selbst zuweilen rätselhaft. :-) Anfangs horchen wir womöglich in den Regenwald hinein, dann schwirren grazile Insekten aller Art an uns vorbei – ein wenig skrjabinesk, oder? –, bald meldet sich vielleicht eine Unke, um in gluckernder Tiefe zu verschwinden … Nun, all dies hatte ich beim Komponieren keineswegs im Sinn, aber mittlerweile komme ich beinahe nicht umhin, derartige Assoziationen zu empfinden – womöglich, weil ich in den vergangenen anderthalb Jahren äußerst viel Zeit im Wald verbracht habe. ;-)

04 val des dix – deux visages
Auch dies ist ein Stück, das ich in dieser Beschreibung (natürlich) nicht auf einen – oder einige wenige – Aspekte reduzieren möchte. Das titelgebende Val des Dix befindet sich im Schweizer Kanton Valais (Wallis). Als Wildbach fließt die Dixence über Stock und Stein; der Stausee Lac des Dix ober- und innerhalb der größten Staumauer Europas hingegen ist hochgradig fesselnd in seiner Ruhe und Erhabenheit und „Reinheit“.

05 amsterdam, palmstraat
Die Palmstraat in Amsterdam – gelegen mitten im Jordaan – ist eine starke Erinnerung aus meinen Zwanzigern, aus Studienzeiten. Man könnte meinen, aus der Ferne tönte ein Carillon.

06 the inside (outside)
Der Zoom dieses kurzen Stücks richtet sich auf Elementares: Ich erkunde „das Innere“ eines Papiertaschentuchs (hier eine nur kurz währende, ASMR-artige Ohrenfreude), dann „das Innere“ diverser Sinustöne. Enigmatisch bleibt the inside nichtsdestotrotz.

07 südpark miniatur
In dieser Miniatur verarbeite ich – mittels unterschiedlicher Techniken teils stark veränderte – Field Recordings aus dem Düsseldorfer Südpark, wobei hier vor allem die benachbarte Autobahn ins Ohr sticht. Durch die urbane Klangtextur hindurch werden Fragmente hörbar, die ich auf einem rund hundert Jahre alten (auf charmanteste Weise) verstimmten Flügel aufgenommen habe.

08 eisblume – walking
Field Recordings aus den kältesten Tagen des jungen Jahres 2021 und ein erinnertes Klangbild aus dem Düsseldorfer Südpark …

09 luisenthal – recherche
Der lange Zeit vom Steinkohlenbergbau geprägte Ort Luisenthal (ebenfalls Teil besagter Saarland-Wanderungen: etwa auf der Strecke von Saarlouis nach Saarbrücken) ist gekennzeichnet von einer tiefen Melancholie, die – so empfinde ich es – ihm einen sonderbar schönen Glanz verleiht. Vielleicht ist Luisenthal noch niemals zuvor ein Musikstück gewidmet worden – zumindest keines der „Neuen Musik“ –, aber ich möchte es hiermit tun.

dedications

10 p.o.d.c.a.s.t. – for irene kurka
In dieser Femmage an die Sopranistin und Podcasterin Irene Kurka, mit der ich auch während der Corona-Zeit zusammengearbeitet habe, verwende ich ausschließlich (!) eine Tonaufnahme meiner Stimme, wie ich die sieben Buchstaben des Wortes „Podcast“ spreche – alles resultiert aus diesem Material.

11 textura – for balázs horváth
2020 hätte ich als Pianist ein Klavierstück des Komponisten Balázs Horváth bei einem Festival spielen sollen – welches dann wegen Corona entfiel. Nun habe ich eine Hommage an Balázs komponiert, in der ich mit rhythmischen Verschiebungen „spiele“; es ist eines der „pianistischsten“ Stücke in klang collection geworden.

12 silent walk – for michael denhoff
Von Michael Denhoff habe ich sehr vieles gelernt – etwa, den Nachhall zu lieben. So ist dieses Stück beinahe ausschließlich aus den („künstlichen“) Nachhallen von Klavierklängen gestaltet, die choralartig ineinanderschmelzen.

13 sonar, so nah – in memoriam theo brandmüller
Auch die regelmäßigen Begegnungen mit Theo Brandmüller haben mich sehr geprägt; in sonar, so nah kommen – naturgemäß komprimiert – vielfältige Ideen und Gedanken zum Einsatz, mit denen ich zu Studienzeiten in seinen legendären Werkanalyse-Seminaren Bekanntschaft machen durfte (vor kurzem noch blätterte ich die – drei Ordner füllenden – Arbeitsmaterialien dieser wohl für alle Studierenden unvergesslichen Workshops durch). Lang erklingt schließlich ein tiefes Cis – bekanntermaßen Theo Brandmüllers „Lieblingston“.

14 hangok, fények – for gyula bánkövi
„hangok, fények“ bedeutet auf Ungarisch: „Töne, Lichter“. In dieser Hommage reflektiere ich musikalisch auf Aspekte, die mir in den Werken des Komponisten Gyula Bánkövi, die ich in diesen Monaten und Jahren oft gespielt habe, zentral erscheinen: etwa „lichte“ Klänge unterschiedlicher Farbigkeit sowie Strukturen, in denen sich ähnliche rhythmische Gebilde in einem festgelegten Zeitrahmen in Bezug auf das Tempo unterschiedlich entwickeln. Auch verbindet uns ein Faible für glockenartige Klänge, die in hangok, fények ebenfalls in unterschiedlicher Schichtung zum Einsatz kommen.

15 merge run – for karola obermüller
Das der Komponistin Karola Obermüller gewidmete Stück ist von großer Komprimiertheit und kann – obwohl ganz ohne Zitate oder ähnliches gestaltet – durchaus im Kontext eines kompositorischen Zwiegesprächs zwischen mir und Karola gesehen werden, das im Rahmen meiner Social-Media-Konzertprojekte WIReless und Netzwellen begann. Im Wesentlichen prägt das Stück eine „Doppelstruktur“, bestehend aus schnellsten, an das mechanische Player Piano gemahnenden Tonfolgen einerseits und einer zweiten Schicht andererseits, die zwar logisch aus der ersten resultiert, aber einen selbstständigen Charakter ausbildet.

16 logic – for christian jendreiko
Das dem Künstler und Medientheoretiker Christian Jendreiko gewidmete Stück erklärt sich aus einem Austausch, den Christian und ich (im Prinzip) seit 2016 führen. Dabei geht es um die Frage einer tieferen, „elektrifizierten“ Logik, die sich hinter den Benutzeroberfächen der unterschiedlichen Tools der „Neuen Medien“ verbirgt. Ich möchte hier aus meiner Mail an Christian zitieren: „In dem dir gewidmeten Stück habe ich versucht, mich der Thematik der inneren bzw. elektrifizierten Logik insofern anzunähern, dass ich das gesamte Stück aus Geräuschen komponiert habe, die technisch mehr oder weniger direkt aus dem Kompositionsprozess selbst resultieren; und diese gesammelten Noises habe ich dann sogar – quasi seriell – nach einer Zeichenfolge strukturiert, die ich aus einem projektbezogenen Quellcode extrahiert habe.“

images

Betreffs der Abteilung images sollen die Titel der jeweiligen Stücke als verbale Annäherungen genügen.

24 coda
Hier werden in einem ganz kurzen Stück Motive und Sounds aus der Gesamtkomposition klang collection nochmals sehr komprimiert zusammengefasst.


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