Please click here for a short information text in English! Für einen kurzen deutschsprachigen Info-Text bitte hier klicken!




Martin Tchiba
Ausführlicher Kommentar zu puzzle, post, poire



Über Worte

Als ich ein Teenager war – die Compact Disc war das Medium der Stunde, ein allgemein zugängliches „Inter-Net“ hingegen allerhöchstens Science-Fiction –, galt ein überbordend ausführlicher Werkkommentar als besonderes Qualitätsmerkmal einer CD-Publikation. Auch einige Booklets meiner emt EDITION MARTIN TCHIBA sind durchaus „textreich“. Dabei stellt sich immer die Frage: Ist der Text integraler Bestandteil des Albums als „Gesamtkunstwerk“? (Okay.) Ist der Wortbeitrag eher ein begleitender Essay oder gar selbstständige Textkunst, die sich mit dem musikalischen Content womöglich nur einen Assoziationsraum teilt? (Okay.) Oder handelt es sich um einen optionalen Analyse-Text zu der auf dem Tonträger fixierten Musik, die geneigte Leser*innen also lediglich mit „Hintergrundinformationen“ zu versorgen gedenkt? (Auch okay, jedoch ist Vorsicht geboten, damit die Ausführungen nicht ins übermäßig Didaktische abdriften …)

Der Dreizeiler auf Seite 4 des gedruckten Booklets zu meinem neuen Album puzzle, post, poire wäre wohl den Kategorien 1 und 2 zuzurechnen, während der hier angezeigte Web-Text eindeutig Kategorie 3 repräsentiert. Letzterer ist konzeptionell sogar der exakte Gegenentwurf zum Booklet-Dreizeiler: weitläufig, minutiös „alles erklärend“ (zumindest vermeintlich …), auch anekdotisch, während das ästhetisch eng mit der Musik verknüpfte Print-Gegenstück aphoristisch und „offen“ bleibt.

Wenn ihr das Album noch nicht gehört habt, solltet ihr an dieser Stelle – noch – nicht weiterlesen: Die im folgenden Web-Text enthaltenen Informationen sind zum Rezipieren des Albums nicht notwendig und einer ersten, „unbefangenen“ Begegnung mit puzzle, post, poire vermutlich sogar eher abträglich. Wer weiterliest – idealerweise also nach mindestens einmaligem Anhören der kompletten Musik –, befindet sich inmitten einer Art von Musik-Analyse-Werkstatt, die optionale Einblicke in meinen Arbeitsprozess und viele (viel zu viele?) Details zum Werk bietet. Mir bereitet das Niederschreiben solcher Backgrounds zugegebenermaßen einigen Spaß, und ich weiß ebenso, dass manch eine*r sich ganz gern in derartige Text-Ergüsse vertieft. (Überdies hat diese Schreibarbeit für mich selbst eine ganz praktische Funktion, entsteht doch auf diese Weise eine umfassende Dokumentation zu meiner Arbeit, auf die ich auch in Zukunft zurückgreifen kann.)


Allgemeines, Ästhetisches

Wie führte mein Weg zu dem, was ich hier heute mache?

Verstärkt zum elektronischen Komponieren gekommen bin ich ja vor gut sieben Jahren – eigentlich im Kontext meines Social-Media-Musik-Großprojekts WIReless –, und zwar vom Klavier ausgehend: Simpel gesagt hatte meine Fantasie immer mehr Dinge gefordert, die auf dem Flügel allein einfach nicht möglich waren (auch nicht ergänzt durch „neue Spieltechniken“ oder andere akustische Instrumente in Ensemble-Konstellationen). So begann ich, diese „Unmöglichkeiten“ mittels elektronischer Supplemente möglich zu machen, woraus sich dann im Laufe der Jahre mein „vollelektronisches“ Komponieren entwickelte. Von Komposition zu Komposition entstand in dieser Zeit eine eigene Ästhetik, die evident auch von meiner Auseinandersetzung mit Popmusik beeinflusst ist; hier geht es vor allem um ein Klangideal, das von einer gewissen „Glattheit“ geprägt ist, die in einem dialektischen Spannungsverhältnis zu den dezidiert „unperfekten“ – bisweilen auch trashigen – elektronischen Artefakten und Field Recordings steht: Während bei Studioaufnahmen sogenannter E-Musik in der Regel ein „natürliches“, auch räumlich dem Konzerterlebnis nachempfundenes Klangbild präferiert wird, herrscht in der Popmusik unserer Tage meist eine „nahe“, (im nicht negativen Sinne) eher sterile Studio-Klangästhetik vor. Ich finde dieses Pop-Klangideal zumindest für manchen musikalischen Content absolut reizvoll und auch konsequent: Eine „genuin elektronische“ (oder: akusmatische) Musik darf und soll durchaus nach Studio klingen …


Freiheit, Kontrolle

So evident es auch sein mag, muss hier noch einmal festgestellt werden, dass die von mir praktizierte Art des elektronischen Komponierens im Prinzip die einzige Arbeitsweise darstellt, bei der auf dem Weg von der Imagination zum fertigen Klangprodukt die Schnittstelle „Interpret*in“ – abgesehen vom Aufnehmen später dann zu verarbeitender Samples am Piano – ausgespart werden kann: Ich kann das Klangprodukt bis zum Letzten selbst kontrollieren. Nun mag die in der notierten Musik (oder: musique abstraite) unumgängliche Instanz der Interpretation – diese Disziplin wird an manchen Hochschulen sogar als ein eigenes Fach gelehrt – als willkommene „Brechung“ des in der Partitur Fixierten verstanden werden, als eine fruchtbare (nicht furchtbare) Hürde, die jede notierte Musik überwinden muss. Interpretation ist eine dialektische Angelegenheit, da die Interpret*innen sich einerseits zu absoluter „Texttreue“ verpflichten, andererseits aber auch ihre eigene Persönlichkeit einbringen sollen. Komponist*innen können diesen Umstand mit einkalkulieren und eventuell sogar kreativ damit spielen. Dennoch fühlt man sich als Komponist*in der eigenen Imagination sehr verpflichtet – man möchte eben doch genau das hören, was man sich zuvor vorgestellt hat –, und diesbezüglich stellt das elektronische Komponieren die perfekte Methode dar, da es maximale Selbstbestimmung ermöglicht. Es ist auf jeden Fall die autonomste Art des Musik-Schaffens, da sie auch weitestgehend unabhängig von Institutionen und äußeren Gegebenheiten ist.

Nun muss hier dem durch das zuvor Beschriebene entstandenen Eindruck entgegengewirkt werden, dieser Art des elektronischen Komponierens sei eine gewisse „Kontrollfreakigkeit“ eigen: Dem ist nicht so. In Bezug auf das Endresultat habe ich natürlich die volle Kontrolle – so kann ich Material, das schlussendlich nicht meinen Vorstellungen entspricht, aus der Komposition entfernen –, aber der Kompositionsprozess verläuft keineswegs one way von der Imagination zum Resultat. Sehr viele Momente der Arbeit bergen Unvorhersehbares und Unplanbares; jede Schichtung von Material ist zunächst ein Experiment mit ungewissem Ausgang, bei dem man gespannt auf das klingende Resultat wartet … und dann weiter daran feilt. Auch Field Recordings haben natürlich etwas sehr Unintentionales: Ich stehe oder sitze irgendwo mit meinem Aufnahmegerät und warte, was mir so vor das Mikrofon läuft. Zufällig entstehende elektronische Artefakte – dazu später – sind logischerweise gleichermaßen unvorherhörbar (sic!). Die eigentliche Kompositionsarbeit hinsichtlich Field Recordings und zufälliger Artefakte ist das Ordnen, das Auswählen und das eventuelle Weiterverarbeiten des entstandenen Materials.

Somit ist es eigentlich paradox: Dieses freie und auch risikofreie Experimentieren – es ist wie in einem Labor, wo ich in meinen Reagenzgläsern unterschiedlichste Stoffe miteinander vermenge und neugierig des Resultats harre, das ich anschließend bewerte und weiter bearbeite – wäre bei instrumentalem, notiertem Komponieren nicht möglich (es sei denn, man schreibt während der Probe mit den Musiker*innen das Stück noch gehörig um, was man aber wirklich absolut nicht tun sollte). Also ist diese Art des elektronischen Komponierens zunächst ein Komponieren „ins Freie“. Zugleich – und das klingt unnötigerweise fast widersprüchlich – ist es auch ein Komponieren mit maximaler Kontrollmöglichkeit. Für mich in dieser Janusköpfigkeit ein Optimum, an dem ich aber ständig weiter „herumschraube“.


XY

Schon mehrfach ist in diesem Text das Wort dialektisch gefallen. Als Angehöriger der Generation Y (Why?) bin ich mit dem Zweifel als zentralem Bestandteil jeglicher Wahrnehmung und jeglichen Denkens aufgewachsen. Das betrifft auch ästhetische Fragestellungen: Demnach wäre ein Werk – ein Musikstück, ein Text, eine Interpretation oder was auch immer – erst „gültig“, nachdem das eigene Tun in Zweifel gezogen worden ist und die Zweifel als eine Art Metaebene in das Produkt zurückgeflossen sind. In meinen Zwanzigern – in den späten 2000er- und den frühen 2010er-Jahren – hatte sich diese Gen-Y-Nummer mitunter darin manifestiert, dass ich kaum mehr kapabel war, in Texten Dinge auch einmal auf den Punkt zu bringen, da ich zu jeder These beinahe reflexartig zumindest die Möglichkeit der Antithese dazuliefern „musste“. Die Schönheit des Einfachen, auch Unmehrdeutigen, musste ich im Laufe der Jahre danach erst (wieder) lernen. Eindeutigkeit erfordert Mut.

Vermutlich gehört es – sicherlich befeuert durch das eine oder andere Kompositionsseminar – ebenfalls zu meinen Gen-Y-Verlangen, jegliche kompositorische Materialentscheidung „begründen“ zu können. Als Fluchtweg hieraus habe ich mir immer wieder das Statement irgendeiner Punk- oder Post-Punk-Band (vielleicht aus England, ich weiß es nicht mehr genau) ins Gedächtnis gerufen, sie würden nur zwei Eigenbewertungen kennen: „Klingt gut“ oder „Klingt nicht gut“ … Erfrischend, gell? Anyway: Unten in den detaillierten Kommentaren zu den einzelnen Sätzen meines neuen Albums finden sich durchaus fundiertere „Materialgewinnungsanalysen“. ;-)

Der Zeitgeist 2024 ist affirmativ; die Generation X hat in der Masse mutmaßlich weder Zeit noch Lust, zu zweifeln. Dieses Affirmative allerdings ist mitunter etwas eindimensional: Eine abgeklärte Einfachheit als Resultat eines Suchprozesses hat einen vollkommen anderen Charakter als eine A-priori-Einfachheit. So bin ich überzeugt, dass sich auch aus einer vergleichsweise einfachen Struktur – wie etwa in meinem Stück calling (Track 1) aus puzzle, post, poire – das Vorhandensein eines komplexen Such-Wegs „heraushören“ lässt. Ähnlich verhält es sich mit Werktiteln: „Plakativ“ und „hintergründig“ sind nicht per se ein Widerspruch.


You name it!

Apropos Titel. So wie Thomas Bernhard Landschaftsbeschreibungen im Allgemeinen abhold war – jede*r wisse doch, wie eine Landschaft aussehe –, hege ich eine zunehmende Abneigung gegenüber beschreibenden Werktiteln für Musikstücke: Sie verflachen (meist) die Ebenen der Wahrnehmung und reduzieren die bezeichnete Musik auf einen (oder wenige) Aspekt(e). Eine naheliegende Lösung wären daher neutrale Titel wie Composition I oder Piece II, oder schlichtweg durchnummerierte Sätze, wobei eine derlei rigorose Titellosigkeit in der Retrospektive eines Gesamtwerks (Lebenswerks) einen ziemlich uniformen Eindruck hinterließe. Ehrlicherweise sind Albumtitel für ein CD-Release auch „werberelevant“; mit einem spannenden Titel das Hörer*innen-Interesse wecken zu wollen, betrachte ich als ein aufrichtiges und legitimes Ziel. In dieser Gemengelage erscheint es mir ideal, die Titel derart zu wählen, dass sie – den Inhalt der Musik unterstützend oder kontrapunktierend – mit ihrem Geist und ihrer Ästhetik gedanklich zum festen Teil der Komposition werden. In den meisten Fällen setze ich damit eher einen „Querimpuls“, der womöglich nicht sofort nachvollziehbar ist, aber doch über mehrere Ecken auf Essenzielles hinweist. Die hier unten befindlichen Beschreibungen zu den einzelnen Sätzen enthalten viele entschlüsselte Informationen zu meiner Titel-Praxis; am deutlichsten wird es vielleicht beim Stück poire (Track 13), mitsamt einer gedanklichen Brücke zu dem überaus sympathischen Musik-Nonkonformisten Erik Satie. Ein Musikstück, das den Titel Birne trägt, birgt (birnt?) doch von vornherein etwas Surreales, stimmt’s? :-)

Alle Stück-Titel auf dem Album puzzle, post, poire bestehen aus je einem kurzen, einprägsamen Wort. Somit sind die Titel „auf den Punkt gebracht“; das ihnen immanente positive „Verwirrungspotenzial“ kommt erst durch die – partielle – Inkongruenz des Gehörten und der vom jeweiligen Titel geweckten Erwartungen zustande. Nur partiell, da diese Inkongruenz nicht ausnahmslos bei allen Titeln gegeben ist: Nun, der deskriptivste Titel ist wahrscheinlich der von puzzle 1 und puzzle 2 (mit Gelassenheit nehme ich das als Generation-Y-er einfach so hin). Es gibt aber auch „pseudo-deskriptive“ Titel; alles Weitere hierzu unten in den Beschreibungen zu den einzelnen Sätzen.

Da das Wort post der einzige Bestandteil des Album-Titels ist, der nicht direkt von einem Satz-Titel abstammt, möchte ich hierzu einige Zeilen verlieren: Eines der möglichen Worte, für die das Buchstaben-Paar pp (Tracks 5, 8, 11 und 14) als Abkürzung stehen könnte, wäre Postproduktion. Natürlich ließe sich die Passendheit dieses Wortes auf viele Tracks ausweiten, da im Prinzip die meisten Stücke auf dem Album – mit welcher Methode auch immer – Resultate einer „Nachbearbeitung“ von irgendwelchem Klangmaterial sind. Grundsätzlich stellt das Wort post eine Relation zu etwas her, das „davor“ stattgefunden hat, also zu Vergangenem. Bei aller Zukunftsgewandtheit ist für mich die eingehende Beschäftigung mit dem „Präteritum“ durch und durch signifikant; das Gewesene eröffnet fundierte Perspektiven auf das Kommende: So hat das Adverb-Paar davor und danach schon in mehreren meiner Arbeiten eine Rolle gespielt; in meinem bislang umfangreichsten Klavierwerk après – avant, uraufgeführt 2023 in Budapest, war es sogar titelgebend (ohne jetzt den Kontext allzu sehr konkretisieren zu wollen; wir möchten hier doch nicht die Rätselhaftigkeit auch noch dieses Werks verbal neutralisieren …). Es fallen mir viele Dinge ein, die ebenfalls post sein könnten: sei es der etwas ausgelutschte Begriff der Postmoderne (oder Post-Postmoderne) … oder der Social-Media-Post, der für Abermillionen Menschen – auch für mich – ein absolut zentrales Ausdrucksmittel darstellt.


Genius loci

Da ich im Allgemeinen hypersensibel auf die Aura von Orten reagiere, spielen diese auch in meiner Musik eine wichtige Rolle, ex- oder implizit. (Unlängst habe ich mich spaßeshalber damit beschäftigt, wie diverse Rockbands – in diesem Fall aus der Rhein-Ruhr-Region – sogar ihre oft eher unspektakulären Stammkneipen beiläufig in ihre Liedtexte einpflegen: Für Außenstehende, die diese Spelunken nicht kennen, ist das meist kryptisch, hinterlässt aber einen hochindividuellen „Stempel“, der – despite everything – ein spezielles Lebensgefühl zu transportieren vermag.) In puzzle, post, poire bin ich vor allem aus den oben im Abschnitt You name it! genannten Gründen zurückhaltender mit direkten Bezügen als etwa in meinem vorigen rein elektronischen Album, dennoch haben es auch hier zwei Ortsnamen – wenn auch chiffriert – in die Titelliste geschafft (siehe unten). Anfangs sollte sogar das komplette Album den schönen Titel sich in den städten verlieren tragen; leicht abgewandelt taucht diese Zeile immerhin im Kurz-Text auf Seite 4 des CD-Booklets auf.


Persönlich

Bevor ich gleich die einzelnen Stücke meines neuen Albums puzzle, post, poire kommentiere, möchte ich – als Exkurs – auf die Frage eingehen, inwieweit „Privates“ in einer Komposition etwas zu suchen hat; hierzu betrachte ich vergleichend auch einige meiner älteren Werke. (Zwischenruf: Ersetzen wir privat durch persönlich; das ist treffender. Okay.) Natürlich gibt es grundsätzlich keine „Regeln“, wie viel Persönliches eine künstlerische Produktion enthalten „darf“; anything goes. Dennoch halte ich persönlich (!) es so, dass das Persönliche im Werk in der Regel dann sinnhaft ist, wenn es entweder auch für komplett außenstehende Rezipient*innen von Relevanz ist, oder wenn sich das Persönliche dermaßen in das (strukturelle) Innenleben der Komposition „gefressen“ hat, dass Persönliches und Komposition auch technisch quasi untrennbar geworden sind: Hier geht es nicht um irgendwelche Chiffrierungen, die irgendwer mit detektivischem Eifer eines Tages wieder dechiffrieren sollte (das Spielerische hat mich noch nie gereizt), sondern um das Vertrauen in eine Art „innere Ordnung“, die „allem“ – und gerade auch dem Alltäglichen – innewohnt.

Diese Ordnung kann auf verschiedene Arten und Weisen in der Komposition landen: Früher arbeitete ich gern mit „aus dem Alltag extrahierten“ numerischen Informationen, die ich für serielle Kompositionstechniken verwendete. So bildete ich bereits mit 17 Jahren Zahlenreihen aus Telefonnummern meiner Freund*innen und organisierte anhand selbiger die komplette Struktur meines Ensemble-Stücks Intermezzo (1999). Zu diesem Werk stehe ich auch heute noch, und die Methode habe ich immer weiterentwickelt. Dem Start-Stück meiner Social-Media-Musik-Projekte WIReless und Netzwellen (2016–2018), 010616 betitelt, lag eine aus Parametern (vor allem Uhrzeiten) aus einer Social-Media-Timeline gebaute Zahlenreihe zugrunde.

In puzzle, post, poire hat sich „die innere Ordnung des Alltäglichen“ nun in erster Linie mittels zahlreicher Field Recordings und ihrer Derivate niedergeschlagen: Durch und durch gewöhnliche Geräuschsituationen, die ich meist via Smartphone eingefangen habe, sind hier nicht bloß kulissenhafte Zutaten der Kompositionen geworden, sondern bestimmen in mehreren Fällen wesentlich deren Anatomie und Charakter. Ich bin und bleibe elektrisiert von dem Gedanken, dass z. B. beim üblichen Warten auf eine verspätete S-Bahn durch den mitlaufenden Sound-Recorder meines Telefons – wie zufällig und nebenbei – die Basis für eine neue Komposition erwachsen kann …

Bei den meisten Kompositionen (oder Texten oder was auch immer) ist es ja trivialerweise so, dass der Weg vom Privaten (Persönlichen, Alltäglichen, whatever …) ins Öffentliche führt, es sei denn, man hat den ganzen Kreationsprozess live ins Web gestreamt. Das erste Abhören und Sortieren der Field Recordings für puzzle, post, poire habe ich – nebenbei bemerkt – gewohnterweise nicht im Studio verrichtet, sondern … mit meinem Laptop, im Bett sitzend.

Übrigens haben mir im Laufe der Jahre auffällig viele Komponist*innen zu ihrer Arbeit auf die Frage des „Warum“ die Antwort gegeben, es gehe ihnen – sinngemäß – darum, einen „eigenen Kosmos“, eine „eigene Welt“ mit ihrem jeweiligen Werk zu schaffen (definiere Persönliches!). Auf Künstler*innen anderer Gattungen ließe sich dies sicher auch übertragen. Und obzwar ich auf romantisierende Künstler*innen-Bilder eher allergisch reagiere, kann ich, solange dieser „Kosmos“ nicht bloß von Gefühlsduselei und Kunsthandwerk begrenzt ist, sondern – um im Bilde zu bleiben – auch intellektuelle lohnende Galaxien umfasst (am besten mehrere sich überlagernde, gegenseitig herausfordernde), dieser Grundintention durchaus etwas abgewinnen … (Nachtrag: Beim Redigieren des Texts merke ich, wie widersprüchlich es ist; intuitiv empfinde ich den Inhalt dieses letzten Absatzes als etwas „schöngeistig“, gleichwohl träfe das darin Geäußerte wahrscheinlich auf die allermeisten Komponist*innen dieser Welt – konzeptuelle, serielle etc. inklusive – auf die eine oder andere Weise zu …)


Artefakte

Hier noch eine Definition: Wenn in diesem Text immer wieder von Artefakten die Rede ist, hätte ich – zumindest in einigen Fällen – gern eine präzisere Erklärung hinzugefügt, was genau ich jeweils konkret darunter verstehe. Allerdings ist dies nicht ganz einfach, da das Wesen dieser Artefakte ja eben darin besteht, dass sie zunächst unbeabsichtigt entstehen: bei einem zufällig unsauber gesetzten Schnitt, im Fall von clipping, bei Störgeräuschen wie Wind oder microphone popping. An manchen Stellen habe ich diese Gebilde, wenn sie mich überzeugten, einfach – bearbeitet oder unbearbeitet – stehen lassen, sie in den Fluss der Komposition integriert. Bereits von Juni 2023 an hatte ich in meiner Projekt-Cloud aber auch einen Folder mit dem Namen artifacts angelegt, in den ich in den folgenden Monaten besonders hübsche, während meiner Arbeit am Album entstandene „Klangkrümel“ ablegte und aus dem ich mich bei der Kreation der weiteren Stücke immer wieder bediente. Überdies gibt es die Kategorie der absichtlich erzeugten Artefakte: Freilich lassen sich „konstruktive Fehler“ im analogen wie im digitalen Bereich (teilweise) bewusst produzieren oder reproduzieren (dafür nutze ich auch gerne mal uralte Kassettenrecorder, Tonbandgeräte, Audiokabel mit charmantem Wackelkontakt … oder ich konvertiere ein Audio-File so oft hin und her in die mannigfaltigsten Dateiformate, bis bloß noch ein knackiger Klangsalat übrig bleibt).


… the medium

Ich habe puzzle, post, poire in Stereo realisiert. Erfahrungsgemäß werden die in meiner emt EDITION MARTIN TCHIBA veröffentlichten Alben vor allem über (hochwertige) Stereoanlagen sowie im Rundfunk gehört: Für diese Verbreitungswege ist Stereo das Optimum. Als Pianist bin ich vermutlich auch vom „zweikanaligen“ Denken (als Pendant zu den zwei Händen) geprägt (wirklich!), und ich finde es sehr befriedigend, ein Album in Stereo abzumischen und in diesem gesetzten Rahmen die Möglichkeiten auszukosten. Beschränkungen schaffen Energie. (puzzle, post, poire als „akusmatisches“ Werk ist nicht für die konzertante Aufführung gedacht; in Konzertprojekten hingegen mache ich gern auch räumliche Arbeiten mit „vielen“ Kanälen, aber das sind dann eben ganz andere Stücke für ganz andere Situationen.)


Zu den einzelnen Stücken

Eine inhaltliche Information vorab: Die fünfzehn Stücke in puzzle, post, poire können jeweils als eigenständige, in sich geschlossene Stücke Werke gehört werden. Natürlich gibt es auch den dramaturgischen Kontext der rund vierzigminütigen Gesamtkomposition; ebenfalls existieren zwischen den Stücken einige „Materialverwandtschaften“, auf die ich teilweise hier unten in den detaillierten Beschreibungen zu den Einzelstücken näher eingehe. Zwischen Track 9 und Track 10 verläuft eine gedankliche Zäsur, die für das Einlegen einer „Hörpause“ oder auch das Einfügen einer Unterteilung in zwei Werk-Hälften optimal ist.


1 calling

Wenn ich einen „roten Faden“ in meinem musikalischen Denken benennen müsste, so wäre dieser eine Vorliebe für hochkomplexe Verästelungen. Als eine Art Regulativ zwinge ich mich selbst jedoch immer wieder, auch der „anderen Seite“ Raum zu geben, nämlich ganz linear gedachten, einfachen Strukturen. Dass der Weg zu selbigen, wie oben im Abschnitt XY beschrieben, meist „von komplex nach einfach“ verläuft, ist aus dem Resultat „herauszuhören“, meine ich. So ist auch die Idee, dieses Stück – calling – aus nur drei Tonhöhen (plus den zwei Diskant-Klavier-Clustern am Ende) und mit fast durchgehendem Puls zu gestalten, nicht etwa spontan entstanden; die Geschichte dahinter ist eine andere:

Zu Beginn der Arbeit an diesem Album machte ich im April 2023 mit meinem Smartphone Field Recordings auf den Straßen von Budapest. Da Regen vorhergesagt war, befand sich mein Handy – sorry, prosaisch – in einer wasserdichten Hülle. Ich hatte vergessen, den Flugmodus einzuschalten, und so kam es, dass während der Aufnahme ein Telefonanruf einging (zum Glück war das Gerät auf „Stumm“ gestellt, sodass immerhin kein Klingelton ausgespielt wurde). Um diesen Anruf entgegenzunehmen, öffnete ich routiniert die zwei festen Klammern der Hülle. Erst bei der Auswertung der Field Recordings im August 2023 merkte ich, dass beim Öffnen der Hülle – mittels der besagten Klammern – ein cooler perkussiver Sound entstanden war: So begann ich, aus diesem ungefähr einsekündigen Tonmaterial, das ich vielfach hintereinander montierte, eine pulsierende Struktur zu komponieren, welche im Stück pp 1 (Track 5) von 01:28 bis 01:41 im Hintergrund zu hören ist.

Für das hier besprochene Stück calling habe ich mich allerdings auf eine Metaebene begeben und ab Oktober 2023 im Studio das aus den Handyhüllenklammern-Sounds entstandene Fragment mit synthetischen Mitteln – bei denen aus dem Verarbeitungsprozess resultierende, feine elektronische Artefakte eine gewisse Rolle spielen – „nachgebaut“. So integriere ich eine weitere interessante Art der Materialfindung, hauptsächlich aber ist das Klangergebnis fokussierter (die ursprünglichen Handyhüllenklammern-Sounds hätten als Standalone-Material nicht die notwendige Tragkraft gehabt). Und, ja, natürlich: Der Satz-Titel verweist auch – auch! – auf den kompositorisch folgenreichen Anruf …


2 fonal

Schon seit Jahren entwickle ich „saisonal“ ein kompaktes Tonmaterial in Form einer Tonreihe, das ich – in welcher Form auch immer, offen heraushörbar oder verborgen, kreuz und quer – in die aktuell anstehenden kompositorischen Projekte einarbeite. Als das Stück fonal entstand, war der von mir als Material 2023 #2 katalogisierte „Stoff“ (spaßeshalber tatsächlich eine Zwölftonreihe!) an der Reihe. Dieses Material ist gleich in mehrere Sätze von puzzle, post, poire eingeflossen, aber nirgendwo ist es so pur und deutlich zu erkennen wie direkt am Anfang dieses Stücks. Wie ein roter Faden zieht es sich durch das komplette Stück, taucht immer wieder fasslich auch in der Originalform auf: fonal bedeutet im Ungarischen Faden, bei der Silbe fon ist aber auch das Wort phono nicht fern, bei dem ich – vielleicht wegen Edisons phonograph – stets an etwas Analog-Knacksiges, zugleich Wohlig-Warmes denken muss, was zu der Lo-Fi-Klangästhetik dieses Stücks passt (die sich freilich von der „hochpolierten“ Klanglichkeit z. B. des folgenden Tracks, puzzle 1, oder der Stücke pp 1 bis 4 absetzt).

Die hier überwiegend verwendeten Sounds sind eine Art Hybrid zwischen typischen gesampelten E-Piano-Klängen und „analogen“ Klavier-Aufnahmen: Ich habe nämlich im Vorfeld der Arbeit im Studio systematisch Einzeltöne in allen Tonhöhen und mit unterschiedlichen Schattierungen am Flügel aufgenommen und diese dann in der gewünschten Reihenfolge hintereinander geschnitten. Diese Technik ergibt einen sehr eigenwilligen Charakter in Sachen Klang und Phrasierung; die Töne bleiben selbst bei überlappendem Schnitt irgendwie „allein“, verbinden sich ergo nicht mit den umliegenden Noten (in puncto Phrasierung erinnert mich das Resultat ein bisschen an die elektromechanischen Mellotrons …). Weiteres Material sind genuin elektronische Sounds (artifacts aus meiner oben im Abschnitt Artefakte beschriebenen „Sammlung“ oder bewusst herbeigeführte, aber z. B. auch Sinustöne).


3 puzzle 1

Okay, dieser Titel mutet zugegebenermaßen deskriptiv an (vgl. Abschnitt You name it!). Das ist jedenfalls kein relaxtes „Puzzeln“, sondern eines, bei dem die Teilchen wie Funken durch die Gegend sprühen. Bei diesem Stück stellt sich, wie bei jeder Musik mit definierten Tonhöhen, die m. E. eher unglamouröse Frage, wie und warum man denn überhaupt auf genau diese Tonhöhen gekommen ist (vgl. Abschnitt XY): Für puzzle 1 habe ich größtenteils wieder unterschiedliche Abwandlungen meines schon unter Track 2 beschriebenen Material 2023 #2 verwendet, wenngleich dies aufgrund von Tempo und Verarbeitung kaum im Einzelnen hörend nachvollzogen werden kann. Klavier-Cluster habe ich in den vergangenen zwanzig Jahren aufgrund ihrer zwangsweise chromatischen, diatonischen oder pentatonischen (und somit etwas neutralen) Farbe eigentlich meist gemieden, aber bei der Arbeit an diesem Album waren sie für bestimmte kompositorische „Situationen“ dennoch das Mittel der Wahl: nämlich wie schon in calling (Track 1) als eine Art Auflösung am Stück-Ende, hier in puzzle 1 durchaus auch in harmonischer Sicht; dafür eignen sich Cluster m. E. doch gut. Dass das englische Wort puzzle, das auch den Gesamttitel des Albums anführt, nicht nur das beliebte Legespiel – also das hypergeduldige Zusammenfügen von Bildern aus gefühlt Milliarden von vorgestanzten, irgendwo und -wie zueinander passenden Elementen – bezeichnet, sondern (figurativ) auch Rätsel bedeuten kann, möchte ich nur am Rande erwähnen.


4 volt

Wer am Stück-Anfang die stark akzentuierten Klavier-Flageolette hört und angesichts des Titels volt (verstanden als Einheit für elektrische Spannung im système international d’unités) starke Stromstöße assoziiert, liegt womöglich nicht ganz falsch. Etwa von 01:15 bis 01:48 hört man dann als Field Recording vom 20. August 2023 die Einfahrt einer Lok am Hauptbahnhof von Saarbrücken; meines Wissens sind das E-Loks (aber genauere technische Kenntnisse dazu habe ich nicht, denn Lokführer wollte ich nur als Kind werden, habe diesen Plan dann aber verworfen). Allerdings bedeutet volt in meiner zweiten Muttersprache, dem Ungarischen, auch war (das Präteritum von sein, ungarisch lenni). Bei allen Brechungen, die – nennen wir es so – Affekte und anderes Gefühl-Gedöns in der Geschichte der Neuen Musik richtiger- und notwendigerweise erlebt haben, und bei allen Reflexionsebenen, auf denen mein eigener Umgang mit jeglicher Musik stets „gefiltert“ wird, bleibt Musik für mich doch auf die eine oder andere Art (auch) mit sehr unmittelbaren Emotionen verbunden. Dies geschieht nicht per Definition; weder beschwöre ich dies, noch fordere ich es von jeder Musik ein; aber: Es geschieht. Oder nicht. Das verhallte Quietschen der Bremsen der betreffenden E- oder Nicht-E-Lok hat bei mir aus irgendwelchen Gründen ein erhebendes Gefühl von Melancholie evoziert: volt. war. was. (Siehe auch Track 10 …) Ab 01:49 gebrauche ich Fragmente aus mit dem Smartphone in rauschend-rauschhafter Umgebung gemachten Klavier-Aufnahmen; der Flügel, den ich da bespiele, ist – momentan interessant verstimmt – schon fast einhundert Jahre alt.


5 pp 1

pp kann für vieles stehen. Musiker*innen werden an die Dynamikbezeichnung pianissimo denken; selbige ist aber nicht gemeint, zumindest nicht im üblichen Sinne: Ich habe das Wort pianissimo nämlich gedanklich zweckentfremdet, als Superlativ von piano, d. h. „Klavier“; denn, wie oben beschrieben, ist das Klavier zwar auch in den meisten meiner elektronischen Kompositionen eine zentrale Klangquelle, aber in den vier Stücken pp 1 bis 4 ist dies in noch höherem Maße der Fall als sonst. Im Prinzip sind pp 1 bis 4 vom Wesen her Klavierstücke, in denen jedoch – beim ersten Hören vielleicht überraschend – einige Dinge „passieren“, die in einem reinen Klavierstück nicht möglich wären, auch nicht mithilfe „neuer Spieltechniken“. An dieser Stelle muss ich darauf zurückkommen, wie ich vor rund sieben Jahren überhaupt zum elektronischen Komponieren gekommen bin: Hierzu schreibe ich ausführlich oben im Abschnitt Allgemeines, Ästhetisches. Auf die Idee und die Ästhetik der dort beschriebenen „supplementierten“ Klavierstücke rekurrieren die Sätze pp 1 bis 4: Hörpsychologisch wird man anfangs vermutlich eher pure Klaviermusik wahrnehmen, und an manchen – sagen wir: wundersamen – Stellen fragt man sich: „War da was?“

pp ist auch als Abkürzung für perge, perge (lateinisch für fahre fort) gebräuchlich; analog dazu fungieren die pp-Stücke auch als Bindeglieder zwischen den anderen Stücken des Albums. Sie sind in der Tracklist nach einem regelmäßigen Muster angeordnet: Ab Track 5 ist jedes dritte Stück ein pp-Stück, die Übergänge sind fließend und auch zeitlich sowie klanglich bewusst ausgestaltet. Und natürlich kann pp das Wort Postproduktion abkürzen (das post hat es auch in den Haupttitel geschafft, vgl. Abschnitt You name it!).

Konkret im Stück pp 1 arbeite ich deutlich hörbar mit dem Material 2023 #2, das sich durch das komplette kurze Stück schlängelt. Als Zitat ist mehrfach die sehr charakteristische Zwei-plus-drei-Tongruppe aus fonal (Track 2, dort bei 00:07/00:08) zu hören, hier (d. h. in Track 5) am fokussiertesten bei 00:47/00:48. Von 01:28 bis 01:41 kann man sich im Hintergrund an den unter calling (Track 1) erläuterten Handyhüllenklammern-Sounds erfreuen.


6 wen

Bezöge sich der Titel wen auf die Stadt Wien, fehlte der Buchstabe i (was niederländische Muttersprachler*innen nicht unbedingt so empfinden würden, heißt die österreichische Hauptstadt in ihrer Sprache doch Wenen). Natürlich könnte auch das deutsche Pronomen wen (der Akkusativ von wer) gemeint sein (der Titel des zehnten Stücks, was, könnte ebenfalls als Pronomen gedeutet werden). Also fiele die Überschrift wen (Track 6) in die oben genannte Kategorie von Stück-Titeln, die auf den ersten Blick nach etwas anderem ausschauen, als was sie sind: eine Art V-Effekt (ja, nicht ganz unverbraucht, dieser Begriff, aber er sei hier einmalig gestattet …).

Field Recordings aus Wien, die ich im April 2023 erstellt habe, spielen in diesem Satz eine zentrale Rolle: Im Prinzip ist ein Großteil des Stücks aus diesen Sounds gebaut, es sind überwiegend Verkehrsgeräusche. Diese bilden den Rohstoff, der durch die unterschiedlichsten Veränderungen getrieben wird, eng verzahnt mit klar umrissenem Klavier-Material (eigentlich sind es lediglich zwei Motive, die hier gebraucht werden). Tanzbar im üblichen Sinne möchte das Stück nicht sein, dennoch wurde ich zu den sich Pattern-artig wiederholenden Rhythmen durchaus von (Minimal) Techno inspiriert.


7 fent

Die „Zutaten“ sind ausschließlich folgende zwei Materialgattungen: elektronisch langgezogene akustische Klaviertöne aus meinem unter Track 2 beschriebenen Einzelton-Fundus sowie ein an ein Grammofon (manche würden auch sagen: an sanft herniederprasselnden Regen) erinnerndes Knistern, das natürlich in einem minutiösen Schneideprozess von mir „selbstgemacht“ ist aus verschiedenen elektronischen artifacts. Was ab 02:44 wie heftige Seufzer oder Windstöße wirkt, stammt eigentlich ebenfalls von diesem Knistern ab; ich habe dafür einzelne „Knackser“ digital augmentiert. Auch ist hier kein leise summender Chor zu hören, wie man vielleicht meinen könnte (no way!), denn auch diese kurze Melodie ist in einem mehrschichtigen Verarbeitungsprozess von den (analogen) Klavierklängen abgeleitet.


8 pp 2

Dies ist das „klavierigste“ Stück des Albums. Außer der ins Transzendentale weisenden Geschwindigkeit (bei der man vielleicht auch an ein selbstspielendes Klavier denken könnte) deutet zunächst eigentlich kaum etwas auf elektroakustische Musik hin. Der Clou ist hier – Achtung, Spoiler! –, dass sich das Piano im Laufe des kurzen Stücks immer mehr verstimmt (natürlich von mir mit voller Absicht elektronisch eingefädelt). Wenn man als Hörer*in bemerkt, dass diesbezüglich irgendetwas doch nicht „normal“ ist, sind die zwei Minuten Musik schon fast wieder vorbei. Das Tonhöhenmaterial teilt sich dieses Stück mit den anderen Stücken auf dem Album, wobei vor allem ein auf einer steigenden großen Terz basierendes, dreitöniges Motiv-Paar ein paarmal aus dem Wust hervorsticht.


9 raar

raar schließt, beim Mastering bewusst so angelegt, ziemlich attacca an pp 2 an: Der unsichtbare Bogen (in Notenform hätte ich ihn gestrichelt dargestellt, als Legato im rein gedanklichen Sinne) zwischen den beiden Stücken verläuft vom Ton f' zum Ton f' … Die Idee zum seltsamen (auf Niederländisch: raar), aber charakteristischen Stück-Anfang kam mir im August 2023 während eines Aufenthalts in einem Motel im ostbelgischen Raeren (Aussprache: „Raaren“, auch hierauf spielt der Stück-Titel an), welches direkt an der Autobahn gelegen ist. Die womöglich an eine Melodika gemahnenden, pumpenden Töne sind in Wirklichkeit ebenfalls aufgenommene „echte“ Klavier-Sounds, um die sich hier filigran Sinustöne und andere genuin elektronische Tunes ranken. Ab 01:36 sind einige der Klaviertöne deutlicher als solche zu erkennen …

Field Recordings aus der Umgebung des Motels sind hier nicht im Spiel; vielmehr habe ich die in meine Augen durchaus als „schön“ zu bezeichnende Kargheit und Weite der Location – d. h. des Motels samt angrenzender Autobahn (sage ich als Nicht-Autofahrer) – allein vermöge der vorhin beschriebenen Mittel musikalisch „eingefangen“. Allerdings war dies kein einhundertprozentig absichtsvoller Prozess; vielmehr habe ich den Eindruck, dass sich der programmatische Klangcharakter dieser Komposition im Laufe der über mehrere Wochen verteilten Arbeitsschritte – grob von September bis November 2023 – quasi von selbst aus dem Material herausgeschält hat … (What shall I say? Ist halt so passiert.)

Hier zwischen den Stücken 9 und 10 verläuft die bereits erwähnte gedankliche Zäsur, geeignet für das Einlegen einer „Hörpause“ oder auch das Einfügen einer Unterteilung des Zyklus’ in zwei Werk-Hälften …


10 was

was ist das längste Stück in puzzle, post, poire. Eine Spezialität dieses Satzes ist, dass hier sozusagen das gesamte Album „drinsteckt“: Das Stück entstand ganz am Ende der Arbeit an diesem Projekt, nämlich Ende November 2023, und ich habe mich dabei ausschließlich aus Material aus den anderen Sätzen meines Albums bedient. Somit ist es ein Rückblick auf meine Arbeit der vergangenen acht Monate, worauf sich wiederum der Titel was (wenn man ihn auf Englisch versteht, als simple past von to be) beziehen könnte: ein kompositorisches Präteritum (natürlich auch post …). Wobei sicherlich auch hier – wie bei wen (Track 6) – viele zunächst an das deutsche Pronomen was denken werden, was ich gern akzeptiere.

Indes ich im ersten Teil des Stücks die anderen Tracks bloß als Rohstoff betrachte und teilweise nur kleine Ausschnitte verwende, die ich dann auch noch massivst modifiziere, beginnt ab 02:40 eine Passage, für die ich quasi alle Tracks (auch den ersten Teil dieses Stücks, allerdings nicht Track 15, da dieser ein klangverändertes Dacapo von Track 3 darstellt) in Gänze auf exakt einhundert Sekunden zusammengepresst und dann übereinandermontiert habe. In der Mini-„Coda“ ab 04:19 kehre ich abermals zur Technik der komprimierten Rohstoffverarbeitung aus der ersten Stück-Hälfte zurück.


11 pp 3

Auf das längste Stück des Albums folgt das kürzeste. Von der Art her, wie ich mit der Balance der Phrasen und Klangblöcke verfahre, ist dies vielleicht der einzige Satz, den ich als Miniatur bezeichnen würde, zumindest in dem Sinne, in dem ich vormals komponiert habe (oft auch längere Stücke aus Aphorismen – kompositorischen „Zuckungen“ – zusammensetzend). Ansonsten ist dieses Stück natürlich mit den anderen drei pp-Stücken verwandt. Etwa von 00:55 bis 01:00 gibt es ein leises Wiederhören mit der Saarbrücker E-Lok, passenderweise en miniature (das erste Rendezvous mit selbiger findet sich ja im vierten Stück, volt, siehe oben).


12 segment

segment fällt in den Bereich der konstruktiven Resteverwertung: Hier habe ich vieles untergebracht, was ich an gutem Material noch in der Cloud für dieses Projekt „herumfliegen“ hatte (fertig komponierte Fragmente, aber auch akustische Klavier-Aufnahmen), was aber bis dato nicht den Weg in die anderen Sätze gefunden hatte. Konsequenterweise ist dies das drittletzte fertiggestellte Stück (vor was und puzzle 2), und zwar erfolgte der finale Schnitt am 23. November 2023.

Wie lässt sich zwar auf vielfältige Weise miteinander verwandtes, aber doch heterogenes Material zu einer schlüssigen Komposition kompilieren? Ich beschloss, diesmal weniger übereinanderzuschichten, sondern stattdessen Segmente hintereinanderzusetzen. Hierfür erstellte ich für jedes der zwölf definierten Materialsegmente eine aus einem (verbalen) Satz bestehende Beschreibung (Inhalt: technische Details, aber auch Charakter und Länge), die ich anschließend von einer KI in eine – so die Eingabe an den Chatbot – „sinnfällige Reihenfolge“ setzen ließ. An diese Reihenfolge habe ich mich bei der Verfertigung des Stücks strikt gehalten, mit einer Ausnahme, wo meine nicht-künstliche Intelligenz eine andere Anordnung präferierte. Ab etwa 01:00 sind die Übergänge zwischen den Segmenten in den meisten Fällen kaum noch hörend zu identifizieren; es ist ein in sich geschlossenes, fließendes Ganzes entstanden.

Als Addendum enthält dieses Stück zwei kurze Sprachsegmente (die einzigen auf dem ganzen Album). Es handelt sich um eingesprochene Versionen meines Mini-Texts aus dem CD-Booklet (Seite 4). Durch die immer weitere erneute Bearbeitung dieser voice recordings ist davon allerdings fast nur eine Art Rascheln übriggeblieben, oder die Sprache wird nahezu vollständig von anderen Layern überdeckt. Dennoch sind sie „da“ …


13 poire

Der Stück-Titel poire ist kein programmatischer, sondern ebenso in einem Prozess und in unterschiedlichen gedanklichen Schichten entstanden wie die Musik, und zwar erst nach Vollendung des Tracks. Beim Anhören des Resultats gemahnten mich vor allem die Sounds am Anfang an den Klang des als Glasharfe oder Gläserspiel bekannten Reibidiofons (ich liebe dieses Wort, daher wollte ich es hier unbedingt unterbringen!). Glas – also das Trinkglas – heißt auf Ungarisch pohár, was in der Aussprache dem französischen Wort für Birne, d. h. poire sehr ähnlich ist. Es ist wohl eher ein Funfact, dass ich in den Herbsttagen, als ich dieses Stück komponiert habe, jeden Morgen – vor Beginn der Arbeit im Studio – eine Birne gefrühstückt habe. Erst später, schon beim Mastering, fiel mir dann ein, dass die poire als Titelgeberin auch bereits vor mehr als hundert Jahren bei Erik Satie eine Rolle gespielt hatte: eine Rolle, die mir im „gern-alle-Konventionen-zur-Disposition-stellenden“ Kontext dieses Albums sogar eminent sympathisch ist, steht sie doch für einen humorigen Seitenhieb auf deskriptive Werktitel (vgl. Abschnitt You name it!) und insbesondere auf die – auch akademisierte – Idee der „Form“.

Realiter habe ich alle Gläser im Regal stehen gelassen und wieder überwiegend reale aufgenommene Klaviertöne verwendet, deren teilweise extreme digitale Dehnung zu den glasig soundenden Tunes (wow!) geführt hat. Auch der von 00:35 bis 00:55 scheinbar vernehmbare „Männerchor“ ist (selbstverständlich) wieder kein Vokalensemble, sondern ist ebenso aus vielfach überarbeiteten Piano-Klängen „zusammengetastet“ wie die Quasi-Violinen nach 01:35. Ab 01:42 dann ein Cut: Hier arbeite ich mit im September 2023 gemachten Field Recordings aus der rush hour im Bereich der Berliner Allee in Düsseldorf. Ab etwa 02:26 wird erneut auch das Material vom Stück-Anfang weitergemixt.


14 pp 4

Im vierten pp-Stück wird eine etwas andere (Klavier-)Klanglichkeit ausgelotet – räumlicher, pedaliger, halliger als in den drei vorangegangenen pp-Stücken –, bevor dann am Stück-Ende allmählich bereits das Album-Ende vorbereitet wird: Während ich auf dem linken Kanal noch finale Piano-Figurationen austrudeln lasse – gefolgt von einem schon vertrauten Diskant-Cluster-Pärchen –, kehrt auf dem rechten Kanal ab 01:25 der Puls aus calling (Track 1) zurück. Ab 01:51 wird kurz der Faden aus fonal (Track 2) wieder aufgenommen, in Gestalt eines direkten Zitats (im Fade-out), das atmosphärisch bereits zum nächsten, dem letzten Stück puzzle 2 überleitet.


15 puzzle 2

Das Stück puzzle 2 ist eine klangveränderte Wiederholung von puzzle 1 (Track 3).


… the massage (sic!)

Eine übergreifende Message des Ganzen gibt es – glücklicherweise! – nicht, aber vielleicht eine Massage? ;-)

An dem Internet-Phänomen ASMR kann ich, wenn es wirklich gut gemacht ist, durchaus etwas Reizvolles finden; eine beliebte Unterkategorie auf diversen Medienplattformen ist Unintentional ASMR: So werden ASMR-Audios oder -Videos bezeichnet, die ursprünglich zu einem ganz anderen Zweck produziert worden sind, sich aber im Nachhinein als ASMR-tauglich erwiesen haben …

Beim Durchhören meines Albums stellte ich fest, dass z. B. das Stück fent (Track 7) durchaus zur Relaxation taugen würde, da es jede Menge fein prickelnde Sounds, aber keine plötzlichen oder lauten Impulse enthält. Die Komposition war natürlich keineswegs als Relax-Track gedacht (!), aber warum sollte nicht auch ein Stück elektronische Neue Musik eine solche, weitere Verwendungsmöglichkeit finden? :-)




Please click here for a short information text in English! Für einen kurzen deutschsprachigen Info-Text bitte hier klicken!


Zurück zur Startseite